2. Die von einem Fremden erzählte Geschichte:
Wie du weißt, wurde die Akademie kurz vor dem Ende des Krieges dasHauptausbildungszentrum für weibliche Imitatoren. Ein sehr gutes übrigenslaut allen Berichten, das viele Traditionen verkörperte und Studenten vonallen Kontinenten anzog. Es gab eine lange Warteliste. Sogar heute geht nochgelegentlich eine Anfrage über den Unterricht ein.
Zu der Zeit wurden jedoch trotz des Hauptunterrichtsprogramms der Schulebestimmte Kunstklassen traditioneller Methoden beibehalten, besonderswährend der Sommermonate. Diese waren in den Touristenbroschüren derStadt mit Namen wie Historische Techniken oder Alte Geheimnisse desMosaiks und der Freskomalerei aufgeführt und erfreuten sich einergewissen Beliebtheit.
Pauline Scholl (Polly) war damals Anfang 20. Viele Jahre später sagte sie ineinem Interview, daß sie sich für einen dieser Sommerkurse eingeschriebenhatte, um herauszufinden, ob es noch mehr für sie zu lernen gab seit ihrerLebensborn-Erfahrung und -Ausbildung. Es scheint, so sagte Polly, daß sieabgesehen von ein paar obskuren Techniken, die auf kleiner Hitze hartgekochte Eier und den Saft einer halben Zitrone erforderten und besser geeignetwaren für eine Spionschule als für ein Studio, nichts Neues lernte. Spätermachte sie eine brilliante Karriere als Restauratorin. Sie muß jetzt über siebzigsein. Du kannst dir vorstellen, wie wir uns gefreut haben, als sie von Wien ausanrief, um zu sagen, daß sie bei uns mitmachen würde.
Vor zwei Wochen kam sie also in Linz an und kam direkt zum Offenen Kultur-haus, um sich die Hauptliste der fehlenden Kunstwerke anzuschauen. Stückevon der Hitler-Sammlung, die für das Führermuseum bestimmt waren undspäter verstreut wurden, waren in Rot auf der Liste gekennzeichnet. Sie trankeinen Kaffee, notierte ein paar Titel und verschwand. Gestern abend haben wirPollys erste Rekonstruktion gesehen (die Clouet-Tafel, auf die in den Unterlagenals Weibliches Portrait, 28 x 18 cm bezuggenommen wird). Polly hattebeschlossen, sie kleiner und blasser als das Original zu machen und hatteAnmerkungen an die Ränder geschrieben, in denen sie die benutzten Quellenund Materialien aufführte."Warum den Clouet?" fragte ich."Ich kann malen,was du möchtest," sagte sie,"aber ich dachte, ich fange einfach an, das Alpha-bet durchzumachen und zu machen, was ich kann, in der Zeit, die ich nochhabe. Und außerdem wußte ich, daß Robert die Canalettos machen wollte.".
Sie hatte die Unterschrift des Künstlers perfekt wiedergegeben und Ð wie einegute Sekretärin Ð ihre eigenen Initiale daneben und genau darunter gesetzt."Ein Polly Scholl Clouet," sagte sie amüsiert. Robert sah von dem Scanner auf,an dem er mit einigen Cranach-Materialien arbeitete (für Lukretia, 57 x 38cm)."Gute Idee, Initiale," sagte er."Das sollten wir alle machen."
Ein anderes Teammitglied, Simone, kam aus Paris an mit Schlämmkreide, Lein-öl, Gummitragant, ihrer alten Leinwandzange und ihrem Hefter und großenPapiertüten mit Eisenkrautblättern für ihren Kräutertee. Sie starrte auf die Listeauf meinem Arbeitstisch."Müssen wir den Kitsch auch machen?" fragte sie."Wenn du willst," sagte ich zu ihr."Wir alle wählen selbst, was wir rekonstruie-ren wollen."
"Und wenn zwei Leute dasselbe Bild machen wollen?" fragte sie weiter. Ich warmüde, nachdem ich den ganzen Tag Farbdämpfe eingeatmet hatte, undungeduldig."Dann akzeptieren wir zwei Versionen von dem Kunstwerk," sagteich."Das ist kein Problem. Soll ich dir deinen Arbeitsplatz zeigen? Du bist imzweiten Stock neben Friedrich. Wasser gibt es im Badezimmer auf der anderenSeite vom Korridor," Ð usw., um ihr dabei zu helfen, sich einzugewöhnen."AberFriedrich singt andauernd!" sagte sie,"und das letzte Mal, als ich mit ihmzusammengearbeitet habe, mußte ich das Maikäferlied mindestens dreimal proTag hören." .